Mythos Harzer Roller
Mythos Harzer Roller – von tierischen Lebensrettern und singenden Exportschlagern
Harzer Roller – alles Käse… oder doch nicht?
Der Harzer Roller – das war für mich ein Weichkäse, der in meiner Familie auf Schmalzbroten verzehrt wurde, dessen Geruch mich zum Teil in die Flucht trieb und dessen Geschmack ich gewöhnungsbedürftig fand. Zumindest bis 2015. Denn dann zog ich nach Sankt Andreasberg und lernte sehr schnell, dass man unter Harzer Rollern hier einen Vogel versteht. Und zwar einen Kanarienvogel, der „rollend“ singt, von den Bergleuten früher gezüchtet und als Singvogel weltweit Beachtung sowie Absatz fand. Ein echter Exportschlager sozusagen.
Hört der Vogel auf zu singen, wird die Luft dünn im Bergwerk
Fast im gleichen Atemzug wurde aber auch erwähnt, dass diese Kanarienvögel ursprünglich als „Giftgasanzeiger“ untertage fungierten: Verstummte der Vogel (oder fiel er gar von der Stange), dann wusste der Bergmann, dass die Atemluft zu wenig Sauerstoff (und/oder zu viel Giftgas) enthielt und er schleunigst seinen Arbeitsplatz verlassen musste. Mit Vogel selbstverständlich, dem er damit ebenfalls das Leben rettete.
So ähnlich habe ich die Geschichte der Harzer Roller Kanarienvögel auch während meiner Führungen an der Grube Samson erzählt. Bis mir mein Chef eines Tages eine Hausarbeit vorlegte, die sich mit genau diesem Thema befasste: Dem durch schriftliche Quellen belegten Einsatz von Kanarienvögeln in den Bergwerken Englands, der USA und Deutschlands. Sie ahnen bereits, zu welchem Ergebnis der Verfasser, Daniel Horstmeyer, gelangt ist?
Die ersten Einsätze untertage: Viel später als vermutet und nur bei Kohlenmonoxid
Fangen wir mal einfach an. Kanarienvögel wurden untertage eingesetzt, um Bergleute oder Rettungsmannschaften vor Giftgasen zu warnen. Doch nun kommt das ABER und es wird etwas komplizierter. Denn die ersten schriftlichen Belege stammen aus der Zeit kurz vor 1900 und aus England. Ausgangspunkt war eine Explosion in einer walisischen Kohlemine 1896, bei der 57 Bergleute tödlich verunglückten. Als im Zuge der Ursachenforschung der Physiologe John Scott Haldane zurate gezogen wurde, belegte er, dass nur fünf der Opfer durch die Explosion, alle anderen 52 jedoch durch eine Kohlenmonoxidvergiftung gestorben waren. Deswegen riet er, in Zukunft Mäuse oder Vögel als „Frühwarner“ einzusetzen.
Und damit sind wir bei den Gasen, die durch Kanarienvögel „angezeigt“ werden. Oder besser gesagt bei dem einen Gas, nämlich Kohlenmonoxid. Alle Quellen, die Daniel Horstmeyer für seine Hausarbeit untersucht hat, beziehen sich ausschließlich darauf. Das bedeutet, dass die tierischen Lebensretter weder für Methan noch für CO2 eingesetzt wurden.
Bereits 1816 entwickelten Humphry Davy und Michael Faraday eine Lampe, die den Methangehalt der Umgebungsluft „anzeigt“. Also lange, bevor Kanarienvögel untertage benutzt wurden. Auch der Einsatz in Bezug auf CO2 wird laut Horstmeyer in einer Quelle zurückgewiesen.
Nachweise in England, den USA und Deutschland
Nichtsdestotrotz wurden die Kanarienvögel sowohl in England als auch den USA bei Rettungsversuchen mitgenommen; ab 1956 wird dies zumindest in England sogar zur gesetzlichen Pflicht. Interessanterweise fällt in diese Zeit aber gleichzeitig der allmähliche Ersatz der gefiederten durch technische Luftmesser. Offiziell aufgehoben wurden die Regelungen von 1956 aber erst 1989, wobei hier wahrscheinlich die Gesetzgebung der Praxis hinterherlief.
Und wie sah es nun mit den kleinen gelben Vögeln im deutschen Bergbau aus? Aufgrund der dürftigen Quellenlage vermutet Horstmeyer, dass die Tiere ebenfalls ab Anfang des 20. Jahrhunderts im Einsatz waren, hofft jedoch auf den Fund eindeutiger Belege in der Zukunft.
Einsatz im Oberharzer Bergbau – definitiv nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts
Was heißt das für den Oberharzer Erzbergbau? Ist unsere Erzählung doch nur ein Märchen? Nun ja, zumindest in Bezug auf die lebensrettende Funktion untertage. Das belegt auch indirekt die Beschreibung von Grubenunglücken im Oberharz von Friedrich Schell aus dem Jahr 1864 (siehe auch unseren Blogeintrag zu den Unglücken im Oberharzer Bergbau hier ). Bei zwei Unfällen scheint es nach Schell zu Kohlenstoffmonoxidaustritten gekommen zu sein. Doch von Kanarienvögeln, die die Luft testen sollen, berichtet Schell nicht. Ganz im Gegenteil: Es verunglücken mehr Bergleute der Rettungsmannschaften als ursprünglich vom Gas betroffene. Wenn damals Kanarienvögel als Lebensretter bekannt gewesen wären, hätten die Bergleute sie definitiv genutzt.
Der Harzer Roller Kanarienvogel – von Sankt Andreasberg in die weite Welt
Seine hohe Popularität verdankt der „Harzer Roller“ also zumindest im Harz seiner Gesangsleistung und dem daraus folgendem guten Verkaufswert. Immerhin konnten die Bergleute damit ihren Lohn aufbessern. 1730 brachten Tiroler den kleinen gefiederten Sänger mit in unsere Region, wo er bald zu großem Ruhm gelangte. Sankt Andreasberg wurde zum Zentrum der Kanarienzucht; von hier aus wurden 1824 ungefähr 4.000 Hähne pro Jahr verkauft, u.a. nach Amerika, Südafrika oder Australien. Von den 350 Züchtern, die es 1883 vor Ort gab, ist heute allerdings nur ein einziger Sankt Andreasberger übrig geblieben.
Der Kanarienvogel heute – ein Fußball-, Film- und Fernsehstar
Und dennoch bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Besucher den Harzer Roller kennen bzw. die Bedeutung der Kanarienvögel untertage. Vielleicht liegt es ja am doch noch recht präsenten Kohlebergbau.
Vor allem in England, der Wiege der tierischen Lebensretter, ist der Begriff nach wie vor weit verbreitet. Dort hat sich z.B. der Fußballclub von Norwich City den Namen „The Canaries“ gegeben. Darüber hinaus hat es der kleine gelbe Vogel sogar in den englischen Sprachgebrauch geschafft: „A canary in a coal mine“ (dt: ein Kanarienvogel in einer Kohlemine) beschreibt eine Person oder etwas, das drohende Gefahr erkennt. In der Vergangenheit wurden wohl auch Informanten als „canaries“ bezeichnet. Schließlich gibt es die englische Redewendung „like the cat that swallowed the canary” (dt: Aussehen/Sein wie die Katze, die den Kanarienvogel verschlang) für eine selbstgefällige Person. Definitiv besser davon kommt der gefiederte Freund in einigen modernen Filmen oder Serien. So soll die Figur „Bibo“ aus der Sesamstraße einen Kanarienvogel darstellen. Und mit dieser Kinderreihe schließt sich ja nun endgültig der Kreis zu unserem Bergwerk, dem „Samson“.
Quellen:
a) Internet
https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/english/canary?q=canary (Oxford dictionary, Suchbegriff “canary”, zuletzt abgerufen am 21.05.2023 um 13:20 Uhr)
https://en.wikipedia.org/wiki/Domestic_canary (englischer Wikipedia-Artikel „Domestic canary”, zuletzt abgerufen am 21.05.2023 um 13:20 Uhr)
https://de.wikipedia.org/wiki/Sesamstra%C3%9Fe (deutscher Wikipedia-Artikel „Sesamstraße“, zuletzt abgerufen am 21.05.2023 um 13:20 Uhr)
b) Print:
Horstmeyer, Daniel: The real canary in a coal mine: Über den Einsatz von Kanarienvögeln im Bergbau. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, Wintersemester 2017/18
Ließmann, Dr. Wilfried, unter Mitarbeit von Geils, Heike und Klähn, Jochen: Sankt Andreasberg über Tage und unter Tage, ein Leitfaden zur Geschichte der Bergstadt und ihrer Umgebung. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2009
Schell, Friedrich: Die Unglücksfälle in den oberharzischen Bergwerken. Clauthal 1864, 1. Nachdruckauflage 1986
c) Weitere:
Harzer-Roller-Kanarien-Museum, Am Samson 2, Sankt Andreasberg
Kommentare
1962 kam der Film "Der Gefangene von Alcatraz" auch in die deutschen Kinos. Nach einer wahren Geschichte züchtet der zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilte Straftäter Vögel und wird zu einem berühmten Ornithologen. Der Hauptdarsteller berichtet in diesem Film von den "Andreasberger Canaries" und stellt diese vor. Der Film war international ein großer Erfolg, Hauptdarsteller Burt Lancaster und Nebendarsteller Telly Savalas (später "Kojak") erhielten sogar eine Oscar-Nominierung.
Kommentare
1962 kam der Film "Der Gefangene von Alcatraz" auch in die deutschen Kinos. Nach einer wahren Geschichte züchtet der zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilte Straftäter Vögel und wird zu einem berühmten Ornithologen. Der Hauptdarsteller berichtet in diesem Film von den "Andreasberger Canaries" und stellt diese vor. Der Film war international ein großer Erfolg, Hauptdarsteller Burt Lancaster und Nebendarsteller Telly Savalas (später "Kojak") erhielten sogar eine Oscar-Nominierung.